Die selbstgewählte Unterwerfung

Die Sprachforscher der Oxford Dictionaries krönten vergangene Woche das Wort des Jahres im angelsächsischen Raum. Es ist «Selfie». Selfie, genau, Sie wissen, wovon die Rede ist, weil Sie regelmässig die Multimedia-Seiten der SonntagsZeitung lesen, und das gründlich. Letzten Sonntag stellten wir Selfie in der beliebten Rubrik Technipedia vor. Ihnen muss man also nichts mehr erklären. Für alle anderen: Selfie ist ein Schnappschuss von sich Selbst, den man mit dem eigenen Handy schiesst und dann auf Instagram & Co. hochlädt.

Selfie ist Ausdruck unserer Zeit. Das Wort wurde 2002 das erste Mal im Netz verwendet und hat sich laut den Sprachhütern seit 2010 exorbitant verbreitet. Ja, Selfie zeugt von einer narzisstischen, egomanen Gesellschaft, in der sich jeder und jede primär um sich selber schert und Zeit und Geld ins Projekt me, myself and I steckt. In der mich - wie heute - Werbemails von About.me beglücken, einem Anbieter «persönlicher Webpräsenz». Und in der immer mehr Selbstvermesser der Quantified Self-Bewegung ihren Körper mithilfe von Maschinen akribisch überwachen und analysieren, um ihr Leben zu optimieren.

Kontrolle, gewiss, die haben Girls und Boys, wenn sie ihr Selfie knipsen. Keiner mehr da, der im falschen Augenblick abdrückt. Das ist gut so. Sie haben es selbst in der Hand, wer sie online sein wollen. Auch die Selbstvermesser bestimmen allein über ihren Körper, niemand sonst. Fatal wäre es allerdings, wenn wir eines Tages merken müssten, dass wir für Freiheit halten, was Unterwerfung ist.

Simone Luchetta

Publiziert am 24.11.2013, sonntagszeitung.ch