Mehr Bildung für alle – von wenigen
Westschweizer Unis setzen auf Onlinevorlesungen, in der Deutschschweiz ist man skeptischer
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Morgen ist Semesterbeginn. Während weltweit immer mehr Studierende ihren Professor daheim am Bildschirm empfangen, pilgern in der Deutschschweiz Tausende an die Hochschulen und drängen sich in volle Hörsäle. Auch an der ETH Zürich: «Lernen ist ein Prozess, bei dem Menschen mit Menschen einen Dialog führen. Wir sind genetisch so programmiert», sagt Rektor Lino Guzzella, der Onlinevorlesungen kritisch betrachtet.
Die Universitäten in der Westschweiz hingegen sind bei der digitalen Bildungsrevolution ganz vorn dabei. «Massive Open Online Course», kurz «MOOC» heisst der nicht unumstrittene Trend aus den USA, der die Bildungslandschaft umpflügen soll. Gemeint sind Onlinevorlesungen, welche die besten Universitäten der Welt ins Netz stellen – angereichert mit Tests, Chats und Foren – und die Lernbegierige auf der ganzen Welt mitverfolgen können. Die Kurse sind offen und kostenlos, abschliessen kann man mit einem Zertifikat – das allerdings nicht fürs Studium zählt. Nichtsdestotrotz tragen Hochschulen so ihr Wissen aus dem Elfenbeinturm in die Welt hinaus, auch in die dritte. Angeboten werden MOOCs auf kommerziellen Onlinelernplattformen wie Apples iTunes U oder Coursera.org (siehe Kasten rechts).
«Mehr Studenten als in meinem ganzen Dozentenleben»
Mit an der MOOC-Front sind auch zwei Universitäten in der Westschweiz: Genf und die EPFL Lausanne, wobei der Präsident der Letzteren der eigentliche Motor ist. Patrick Aebischer ist von den Möglichkeiten der MOOCs begeistert. Er weilt derzeit in Afrika, um die Zusammenarbeit mit den dortigen Universitäten zu vertiefen.
Sicher habe das bereits bestehende Netzwerk und die Französischsprachigkeit der EPFL das Engagement für MOOCs in Afrika vorangetrieben, so der verantwortliche Vizepräsident Karl Aberer. Das sei aber nur eines der Motive gewesen: «Stärkere waren die Nutzung des Formats für die eigenen Studenten und das Potenzial in Weiterbildung und lebenslangem Lernen.»
Einer der Ersten, der damit experimentierte, ist Martin Vetterli, Professor in Computerwissenschaften und seit Anfang Jahr Präsident des Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds. Seinen ersten MOOC führte er im Frühling durch. 40 000 Studenten hätten sich eingeschrieben, etwa 26 000 nahmen an der ersten Videolektion teil, 6000 waren bis zum Schluss dabei, und rund 1500 haben abgeschlossen. Vetterli: «Das sind mehr, als ich in den 25 Jahren meines Dozentenlebens in den USA und der Schweiz zusammen ausgebildet habe.»
Hier kommt die verstärkte «Sichtbarkeit» ins Spiel, zu der MOOCs laut Aberer beitragen. Gemeint ist, dass die Massen-Onlinekurse die Marke EPFL in die Welt hinaustragen. Das lässt sie sich auch einiges kosten: 50 000 Franken pro Kurs – und für den Dozenten einen doppelt so grossen Aufwand wie für eine normale Vorlesung, die er erstmals hält.
Trotz dieser Hürden hat auch die Universität Genf schon MOOC-Erfahrung gesammelt. Für Rektor Jean-Dominique Vassalli sind die Kurse eine Antwort auf viele Entwicklungen, die die Hochschulbildung derzeit verändern: «Die Vermassung, der Trend zum lebenslangen Lernen, private Universitäten, der leichte Zugang zu Infos, die Internationalisierung – MOOCs sind nur die Konsequenz all dieser vielen Veränderungen.»
In der Deutschschweiz dagegen bleiben die Hochschulen gelassen. Einzig die Universität Zürich wagt es, auf den Zug in die Zukunft aufzuspringen und startet in diesem Semester mit dem Coursera-Kurs «Informatik für Ökonomen» von Abraham Bernstein.
Und was bewegt sich an der Vorzeigehochschule ETH Zürich? Nichts – zumindest wenig in Richtung «open» und «massive»: «Wir sind in einer Testphase. Unsere Kurse im MOOC-Format richten sich primär an die immatrikulierten Studenten», sagt Koni Osterwalder, Leiter Lehrentwicklung und -technologie. Die Kurse heissen intern denn auch nicht MOOCs, sondern TORQUEs: «Tiny, Open-with- Restrictions courses focused on QUality and Effectiveness ». Ab morgen starten drei solche Tiny, kleine Online-kurse. Eine stufenweise Öffnung sei vorgesehen, sofern der Dozent das wünsche, so Osterwalder.
Rektor Lino Guzzella setzt klare Prioritäten: «Ich will an der ETH primär die beste Lehrqualität bieten», sagt er. «Sollten MOOCs dieses Ziel unterstützen, werden wir sie auch einsetzen.»
Er nennt zwei Hauptgründe für die, wie er sagt, «Sorgfalt» beim Einsatz von MOOCs. Zum einen seien Fragen des Datenschutzes nicht geklärt: «Die kommerziellen Plattformanbieter zeichnen jeden Klick auf. Was passiert mit diesen Daten?» In den fortgeschrittenen Verhandlungen mit einer Non-Profit-Plattform nehme dieses Thema viel Raum ein. «Und zweitens will ich nicht, dass irgendwelche kommerziellen Plattformen mit Schweizer Steuergeldern alimentiert werden.» Sagts und schlägt mit den Fäusten auf den Tisch.
Plattformanbieter wittern den grossen Reibach
In der Tat geht es bei der «Demokratisierung der Hochschulbildung» auch um Geld. Universitäten, Bildungsunternehmen und Plattformanbieter wie Udacity wittern den grossen Reibach, Venturekapitalisten investieren Millionensummen in den neuen Trend, insgesamt über eine Milliarde Dollar. Höchste Zeit, dass die Anbieter der Lernplattformen umsatzbringende Geschäftsmodelle finden. Bisher wird immer noch experimentiert. Bereits umgesetzt wird das Premiummodell: Die Kurse sind gratis, die Zertifikate kosten, meist zwischen 30 und 150 Franken. Ein zweites Modell sieht vor, grossen Firmen bei der Besetzung von Stellen zu helfen. «Wir wissen genau, welches die hundert Besten in einem Kurs sind», bringt es Marcus Riecke, Chef der deutschen Plattform Iversity.com auf den Punkt.
Die Lizenzierung von Online-Kursen ist eine weitere Möglichkeit, mit MOOCs Geld zu machen. «Kleinere Unis kaufen dann etwa den Statistikeinführungskurs in BWL einer Eliteuni, können das Geld für einen Dozenten sparen und haben erst noch die bessere Qualität», so Riecke. Das schaffe Transparenz: So könnten Studenten einmal vergleichen, was die Lehre an ihrer Uni eigentlich wert sei.
Was Guzzella schaudert – die Kommerzialisierung der Lehrinhalte – stört die Westschweizer weniger. Zum einen sei die EPFL an den Gewinnen von Coursera beteiligt, so Aberer. «Und grundsätzlich unterscheidet sich dies nicht von der Nutzung anderer Inhalte von Universitäten, insbesondere Bücher durch Verlage.» Und der Genfer Rektor Vassalli glaubt, seine Seele nicht dem Teufel verkauft zu haben, weil sie bei Apples iTunes U oder Coursera mitmachen.
Dennoch regt sich selbst in den USA Widerstand gegen die MOOC-Euphorie. Besonders die Lizenzierung, also das Einkaufen von Kursen der Eliteunis durch Durchschnittsanstalten, gibt zu reden. Man befürchtet, dass die Bildungsvielfalt verloren geht und irgendwann nur noch wenige Tophochschulen ihre Sicht der Welt verbreiten. Auf der Strecke bleibe Persönlichkeitsbildung und kritisches Denken. Deshalb forderten 58 Harvard-Professoren eine Ethikkommission, die sich mit den Konsequenzen von MOOCs befassen soll.
Guzzella teilt solche Überlegungen. Je länger er spricht, desto deutlicher wird auch, dass ein vehementer Verfechter der Präsenz-Uni vor einem sitzt, der Sätze sagt wie: «Mein Idealbild ist Lehre mit Interaktion zwischen Dozierenden und Studierenden. Das ist Lehre vom Besten, und das bietet die ETH.»
KASTEN:
Was sie über MOOCs wissen sollten
Was ist der Unterschied zwischen einem MOOC und einer abgefilmten Vorlesung? Ein MOOC wird in der Regel in Produktionsstudios der Universitäten aufgenommen. Die Kursleiter erklären dabei die Inhalte in kurzen Abschnitten. Dabei sieht man die Dozenten nicht zwangsläufig, sondern hört bisweilen nur ihre Stimme. Dazwischen gibt es Tests. Nur wenn die Antworten richtig sind, läuft das (ca. 15 Minuten lange) Video weiter.
Beispiel 2: Machine Learning, University Stanford by Coursera.org
Wo kann ich MOOCs finden?
Auf Online-Lernplattformen, die Partnerschaften mit Unis haben: Apples iTunes U, Udacity.com oder Edx.org von Harvard und dem MIT; europäische Pendants sind Iversity.org, Openuped.eu oder Futurelearn.com. Marktführer Coursera.org spricht von rund 4,6 Millionen Studenten und Partnerschaften mit über 80 Hochschulen.
Kann ich mit MOOCs einen Universitätsabschluss machen?
Nein, die Kurse laufen ausserhalb des Unibetriebs; man kann auch keine ECTS-Punkte holen.
Für welche Fächer eignen sich MOOCs?
Grundsätzlich für alle. Mathematische haben dabei den Vorteil, dass dort Wissen standardisiert abgefragt werden kann.
Gibt es MOOCs in der Schweiz?
Die EPFL Lausanne hat bisher zwölf Kurse auf Coursera angeboten, einer startet jetzt auf EdX. Die Uni Genf bietet vier an, die Uni Zürich startet jetzt mit dem ersten, alle auf Coursera.
Erschienen am 8.9.2013 in der SonntagsZeitung (PDF)